Die Entscheidung, noch einmal einen Standortwechsel vorzunehmen, hat sich eigentlich schon zu Beginn unseres Waren-Aufenthaltes
herauskristallisiert. Auch wenn wir uns wenig auf unserem Campingplatz aufgehalten haben, ist er uns doch zu ungemütlich, als
dass wir hier noch ein paar Nächte dranhängen wollten. Zumal mein 40. Geburtstag unmittelbar bevorsteht. Auch wenn ich bezüglich
meiner Geburtstage ein anspruchsloser Zeitgenosse bin, einen etwas anderen Rahmen möchte ich dafür doch haben. Vor allem
möchte ich ein letztes Mal unser Faltboot aufbauen und die wunderschöne Naturlandschaft Mecklenburgs aus der
Wasserperspektive erleben.
Als wir nach dem Frühstück bei abermals herrlichem Wetter unser Zelt abbauen, ist unser Ziel der
Campingplatz bei Zietlitz am
Leppinsee. Das liegt inmitten des
Müritz-Nationalparks
strategisch günstig in der Mitte der sogenannten Alten Fahrt, einem Wasserweg zwischen der an der Großen Müritz gelegenen
Bolter Mühle und dem Örtchen Mirow. Von dort aus, so haben wir uns überlegt, können wir also noch zwei nette Tagesausflüge
mit Faltboot "Lisa" unternehmen.
Mit dem Packen sind wir recht zügig fertig. An der Rezeption des Campingplatzes gebe ich die Karte für die Schranke an der Einfahrt
zurück, die wir dank der Fahrräder nun kein einziges Mal wirklich gebraucht haben. Dann
fahren wir los.
Nach gründlichem Kartenstudium
haben wir uns entschlossen, quer durch den Nationalpark zu fahren, durch den einige wenige kleine Sträßchen führen. Die Hauptstraßen
wären mit einem riesigen Umweg verbunden. Also fahren wir am Ende der Stichstraße zum Campingplatz erst einmal rechts — dorthin,
von wo wir vorgestern mit den Fahrrädern gekommen sind. Am Ende dieser Straße lauert uns jedoch eine Schilderansammlung auf, die die
Weiterfahrt verbietet. Überrascht studieren wir noch einmal die Karte und finden heraus, dass eine zweite Straße, die von Waren aus
in den Park hineinführt für den Autoverkehr geöffnet ist. Die müssen wir also jetzt finden.
Wir gondeln aus Ecktannen hinaus in Richtung Hauptstraße. Irgendwo auf dem Weg dorthin müsste es rechts wieder in den Nationalpark
gehen. Doch die Beschilderung verrät uns nichts darüber. Wir landen auf der Hauptstraße und biegen bei der nächsten Gelegenheit rechts
ab, nur um im großen Bogen an einen Kreisel zurückgeführt zu werden, an dem wir zuvor schon einmal vorbeigekommen sind. Wir fahren
auf einen Parkplatz und vertiefen uns abermals in unsere Karten. Offensichtlich befinden wir uns genau an der Stelle, von wo aus man
in Richtung Federow in den Nationalpark hineinfahren
kann. Der Wegweiser am Kreisel verrät uns darüber allerdings nichts, sondern
gibt lediglich den Namen einer Siedlung preis, die sich in dieser Richtung befinden soll. Verräterischerweise trägt die Straße den Namen
"Federower Weg". Scheinbar ist nicht erwünscht, dass über diesen Weg die Automassen den Weg in den Nationalpark finden, weswegen
man ihn einfach nicht ausgeschildert hat. Gute Sache! Wir werden ihn aber trotzdem benutzen. Zunächst jedoch schlüpfen wir noch einmal
kurz in den Edeka-Markt an der Ecke, dessen plötzliches Auftauchen uns daran erinnert, dass ein paar unserer Vorräte einer Aufstockung
bedürfen. Jenseits der Kasse fällt uns ein, dass wir eigentlich checken wollten, ob uns hier nicht noch eine Flasche Klabautermännchen
in die Hände fällt — quasi als Andenken an die netten Abende in unserem Warener Lieblingsrestaurant. Also geht Kordula noch mal
in den Laden und wird dort tatsächlich fündig.
Wir setzen unsere Fahrt fort. Neun Kilometer haben wir allein bis jetzt verbraten, nur um herauszufinden, wo wir überhaupt langfahren
müssen. Die folgenden neun sollen uns dafür jedoch wie neunzig Kilometer vorkommen. Zunächst läuft alles prächtig. Über das asphaltierte
Sträßchen, dessen zweiten Teil wir bereits vor zwei Tagen kennengelernt haben, erreichen wir sehr bald
Federow.
Danach geht es weiter nach
Schwarzenhof,
vorbei an dem gastunfreundlichen Restaurant Kranichrast. In
Speck
lassen wir uns erstmals über den Fortgang des
Weges verunsichern, biegen an einer Weggabelung links ab und landen in einer Sackgasse. Nachdem wir unseren Fahler korrigiert haben,
lassen wir mit Speck auch den asphaltierten Teil unserer Route hinter uns. Aus der Straße wird eine Piste, und aus der Piste eine
Aneinanderreihung von Schlaglöchern. Bald sind wir mitten im Wald und kommen nur noch im Schrittempo voran. Die wenigen Wegweiser, die
uns jetzt noch begegnen, sind eindeutig für Radfahrer gedacht und von entsprechender Größe. Immerhin geben sie uns ein Mindestmaß
an Orientierung. Ab und an kommen uns ein paar Fahrradfahrer entgegen, und ich fühle mich so richtig mies dabei, weiß ich doch nur zu
genau, welche Schimpftiraden mir auf der Zunge lägen, würde ich als Radfahrer mitten in der Natur einem solchen Deppen begegnen,
der auch den hintersten Winkel der Welt noch mit einem Auto befahren muss. Dabei sind wir auf diesen Wegen um den Komfort eines Autos
nun wirklich nicht zu beneiden.
Nach gefühlten fünf Stunden wird unser Waldweg endlich von einer asphaltierten Straße gekreuzt. Ein Wegweiser verheißt uns Erlösung:
rechts geht es nach Zietlitz. Erleichtert biegen wir ab und landen nach wenigen hundert Metern am Eingang eines mitten im Wald gelegenen
Campingplatzes.
Der Platz wirkt sehr ruhig, obwohl er augenscheinlich gut besucht ist. Vom Leppinsee ist von hier oben aus nichts zu
sehen. Wir marschieren zur Rezeption und stehen vor verschlossener Tür. Ein Zettel verrät uns, dass vor 15.00 Uhr niemand hier die Türen
öffnen wird. Ein zweiter Zettel verkündet, dass es keine Stellplätze mehr gibt. Super! Hätten wir aus der Lektion von Freitag etwas
gelernt, dann hätten wir heute morgen vielleicht mal hier angerufen! Haben wir aber nicht! Als wir jetzt in einem Akt der Verzweiflung die
Telefonnummer aus dem Anhang unseres Gewässerführers heraussuchen, um unser Glück zu versuchen, landen wir bei irgendeiner Zentrale, die
für mehrere Campingplätze zuständig zu sein scheint und uns hier auch nicht weiterhelfen kann. Was sollen wir tun? Eineinhalb Stunden
warten, in der Hoffnung, dass sich die Bezeichnung Stellplatz auf Wohnmobile und ähnliches bezieht, wir das Auto außerhalb des Platzes
abstellen und unser Zelt auf irgendeiner Wiese noch dazustellen können — verbunden mit dem Risiko, am Ende doch weitergeschickt
zu werden? Oder einfach das Zelt schon mal auf besagter Wiese aufbauen und so vollendete Tatsachen schaffen? Ich bin für letzteres,
Kordula befürchtet, dass wir uns damit keine Sympathien bei den Campingplatzbetreibern verschaffen. Unentschlossen schlendern wir über den
Platz, hinunter zum See. Doch die schönste Zeit unseres vorletzten richtigen Urlaubtages hier sinnlos zu vertrödeln, dazu haben
wir auch keine Lust. Also beschließen wir, es in Granzow beim nächsten Campingplatz zu probieren, auch wenn der strategisch nicht ganz so
günstig liegt. Diesmal jedoch rufen wir vorher an. Leider erreichen wir niemanden und beginnen schon wieder, uns in unserem Frust zu
suhlen, als plötzlich das Handy klingelt. Jemand vom Campingplatz in Granzow ruft zurück und erklärt uns auf unsere Fragen hin, dass
es in Granzow noch Zeltmöglichkeiten gibt, der Platz jedoch so klein ist, dass dort sowieso keine Autos drauf dürfen und diese außerhalb
geparkt werden müssen. Uns ist das schnuppe! Wir ergreifen die Gelegenheit beim Schopfe, diesen Tag nicht in einem völligen Fiasko
enden zu lassen, und springen ins Auto.
Diesmal geben wir höllisch darauf acht, nicht vom asphaltierten Weg abzukommen. Den weit geschwungenen Weg über
Qualzow
nehmen wir dabei gerne
in Kauf. Bald erreichen wir Granzow. Der Ort ist sehr klein und der
Campingplatz
schnell gefunden, auch wenn wir dafür dann doch nochmal
über einen von Schlaglöchern übersäten Feldweg hoppeln müssen. Wir parken das Auto nahe bei der Zeltwiese, melden uns an der Rezeption
an, wo wir unter anderem einen DinA5-Zettel ausgehändigt bekommen, der als Parkberechtigungsschein für den Parkplatz der Ferienanlage
Mirow am Ortseingang von Granzow dient, und suchen uns einen Platz für unser Zelt. Wieder einmal heißt es, die Vorzüge einer saftig
grünen und weichen Unterlage gegen die eines schattigen Baumes abzuwägen. Letzten Endes entscheiden wir uns für die von letzterem, wobei
uns die hochsommerlichen Temperaturen willkommene Hilfestellung leisten. Wir rücken ein paar der großzügig über den kleinen Platz
verteilten Bierzeltgarnituren beiseite — nicht ohne uns zuvor eine der Bänke für den Platz vor unserem Zelt zu sichern —,
so dass neben dem Zelt auch noch unser Sonnensegel seinen Platz findet. Dann wird auch Faltboot "Lisa" endlich wieder aufgebaut.
Als wir das Auto zu seinem Parkplatz bringen, nutzen wir die Gelegenheit gleich für einen kleinen Ortsrundgang. Schließlich gilt es,
herauszufinden, wo sich der Laden befindet, an dem man morgens Brötchen bekommen kann, nicht dass wir die letzten Tage des Urlaubs
plötzlich ohne unsere morgendlichen Brötchen auskommen müssen. Wir finden den Laden und inspizieren das Angebot, wobei unser
besonderes Augenmerk den Obstweinen aus Petzow bei Werder an der Havel gilt, wo wir zwei Jahre zuvor einen ausgesprochen köstlichen Sauerkirschwein
entdeckt haben, der sich im hiesigen Sortiment jedoch leider nicht wiederfindet. Dann schlurfen wir zum Campingplatz zurück und kochen
uns ein verspätetes Mittagessen.
Der Platz hat sich inzwischen gefüllt. Direkt neben uns hat sich eine etwa fünf- bis sechsköpfige Patchwork-Familie niedergelassen und eine
mittelgroße Zeltstadt errichtet. Die beiden Erwachsenen bemühen sich, den wuseligen Haufen bei Laune zu halten. Insgesamt ist die Atmosphäre
auf dem kleinen Campingplatz sehr nett. Die Abwesenheit jeglicher Autos tut ihm zweifellos gut. Die Kanuwanderer dominieren das Bild.
Lediglich das direkt angrenzende Strandbad, an dem sich auch jede Menge Gäste der Ferienanlage Mirow tummeln, vermag es, die Idylle ein
wenig zu stören.
Nachdem unsere Mägen wieder gefüllt sind, können wir endlich unsere Paddeltour in Angriff nehmen. Angesichts des nicht mehr ganz so jungen
Tages, ist es nun recht günstig, dass es von dem Quartier, zu dem es uns verschlagen hat, nicht mehr ganz so viele Kilometer bis nach
Mirow,
unserem Ausflugsziel sind. So können wir es gemächlich angehen lassen. Befreit von der Last des Gepäcks, das wir die Woche zuvor
mit uns über die Gewässer Mecklenburgs transportieren mussten, gleiten wir wie von selbst über die Wasseroberfläche und gelangen von dem an
den Campingplatz grenzenden See mit dem Namen Granzower Möschen in einen
gewundenen Flussabschnitt,
der uns schon nach kurzer Zeit in den Mirower See entlässt.
Motorboote und Kanus dümpeln auf den Wellen, die von einem stetigen Wind angetrieben werden. Ein Boot mit einem Wasserskifahrer im Schlepptau
dreht seine Runden. Wir halten auf Mirow zu, gleiten langsam am Ostufer des Sees entlang und entscheiden uns dann, an der
Schlossinsel
zu landen, wo bereits andere Kanuwanderer ihr Boot an Land gezogen haben.
Mit dem Vorsatz, den Ort in Augenschein zu nehmen und uns vielleicht irgendwo einen Kaffee oder ähnliches zu gönnen, ziehen wir los.
Das Schloss, hinter dem gerade ein Zirkus seine Zelte aufzuschlagen scheint, erweist sich jedoch bald als einzige echte Sehenswürdigkeit.
Ein wirkliches Ortszentrum, wo man an Schaufenstern entlangbummeln oder sich gemütlich auf einer Bank fleezen kann, suchen wir vergebens
— auch wenn wir alle vier Himmelrichtungen abmarschieren, die von der Kreuzung mit der Ampel im Zentrum wegführen, an der der
gesamte Durchgangsverkehr vorbeibraust. Wir beschließen, unsere Suche auf ein nettes Café oder einen Biergarten zu beschränken.
Schließlich landen wir im Hinterhof des Restaurants
Zum Goldenen Löwen.
Dass wir die einzigen Gäste sind, passt ins Bild, das wir inzwischen
von Mirow gewonnen haben. Eigentlich wollen wir nur etwas trinken, doch so dauerhaft sättigend war unsere Campingküche heute nicht, als dass
wir dem Angebot der Speisekarte allzu heftigen Widerstand entgegensetzen könnten. Und so bestellen wir uns zu dem Köstritzer und dem Radler
eben noch zwei Kleinigkeiten, ein Bauernfrühstück und ein "Harzer Schnitzel". Allmählich füllt sich der Biergarten doch noch mit anderen
Gästen, so dass wir uns jetzt auch nicht mehr ganz so verloren vorkommen müssen. Im Reiseführer entdecken wir eine Beschreibung des Restaurants,
in dem auch ein Papagei names Koko Erwähnung findet, der sich bei den Gästen erkundigt, ob es ihnen auch geschmeckt hat. Tatsächlich
befindet sich ein Papageienkäfig im Inneren des Restaurants, jedoch soll es sich dabei inzwischen um einen Nachfolger von Koko handeln, wie wir
bei einem Gespräch am Nachbartisch aufschnappen. Was in dem Reiseführer unberechtigterweise keine Erwähnung findet, ist, dass jeder Gast die
Chance erhält, sich sein Essen zu erkniffeln — bei fünf gleichen Augenzahlen in einem Wurf mit dem Würfelbecher soll uns die Rechnung
erlassen werden. Über die Jahre hinweg haben das bereits etliche geschafft, wie uns die Kellnerin erläutert. Obwohl Kordula in unserer
internen Urlaubskniffelmeisterschaft aktuell keinen Lauf hat und aussichtslos im Hintertreffen liegt, lasse ich sie würfeln. Wenn es ums Essen
geht, mobilisiert sie mit Sicherheit all ihre Glücksreserven. Doch mehr als ein Achtungserfolg mit drei Dreien bekommt sie nicht zustande, und
so zahlen wir brav unsere Rechnung, bevor wir uns wieder auf den Weg zu unserem auf der Schlossinsel wartenden Faltboot machen. Wie immer, wenn
wir "Lisa" irgendwo unbeaufsichtigt zurücklassen, ist uns ein wenig mulmig, da sich ja irgendein zwielichtiger Zeitgenosse in der Zwischenzeit
an dem Boot vergriffen haben könnte. Entsprechend erleichtert sind wir, als wir "Lisa" mitsamt Ausrüstung unangetastet vorfinden.
Auf dem 3 km langen dem Rückweg nach Granzow lassen wir uns noch mehr Zeit wie bei der Hinfahrt nach Mirow, um auch noch die allerletzten Sonnenstrahlen mitzunehmen,
mit denen der Mirower See an diesem Abend in sein herrliches Licht getaucht wird. Erst als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwunden ist, tauchen
wir wieder in den
Flussabschnitt
ein, der uns zum Granzower Möschen und unserem
Campingplatz
zurückführt.
Den Rest des Abends genießen wir kniffelnd und lesend vor dem Zelt. Im Waschraum versuche ich, den Akku meines Handys mit dem Minimum an Strom
zu versorgen, den es für den kommenden Tag braucht. Leider gibt es hier keine von außen abschließbaren Kabinen mit Steckdosen, so dass der Vorgang
meiner Anwesenheit bedarf, die ich jedoch auch nicht ins Unerträgliche anwachsen lassen möchte. Es ist mein letzter Abend als 39-jähriger, und
ich bin ein bisschen melancholisch deswegen. So sehr Kordula auch drängt, bis Mitternacht auf zu bleiben und in meinen Geburtstag hineinzufeiern,
ich bleibe stur, um ein letztes Mal als 39-jähriger ins Reich der Träume hinübergleiten zu können.